Zum ersten Mal in seinem Leben wird Klaus Pätzold dieses Jahr nicht das Fest der Geburt Christi feiern. Vor sechs Monaten ist der Hamburger Wissenschaftler zum Islam konvertiert. Für ihn ist jetzt Fastenzeit. Was das bedeutet, hat er hier aufgeschrieben.
Es ist wieder so weit. Die Hamburger City und ihre Geschäfte und
Einkaufszentren erstrahlen im vorweihnachtlichen Glanz. Es ist Adventszeit, und
den Vorübergehenden steigt der Duft von Lebkuchen und gerösteten Mandeln
verlockend in die Nase. Die Kinder drängeln sich um die Weihnachtsmänner in
den Kaufhäusern, voller Ahnung und Vorfreude auf die Geschenke unter dem
Weihnachtsbaum, während die einkaufsgestressten Erwachsenen noch dabei sind,
sich den Kopf zu zerbrechen, wem sie was noch schenken könnten.
Gelegentlich werden die Menschen auch daran erinnert, dass Weihnachten etwas mit
Religion zu tun hat, wenn sie im Vorbeigehen eine Krippe mit dem Christuskind in
einem Schaufenster erblicken. Jedenfalls gehen die meisten Durchschnittschristen
nach wie vor zum Weihnachtsgottesdienst und vielleicht noch einmal zu Ostern in
die Kirche, aber das war es dann auch schon an religiösen Pflichtübungen.
So habe ich bisher auch jedes Jahr als evangelischer Christ die Adventszeit und
die Weihnachtstage erlebt.
In diesem Jahr ist bei mir alles ganz anders, denn ich bin vor einem halben Jahr
zum Islam konvertiert mit allen Rechten und Pflichten eines Muslims. Ich folge
nicht mehr dem Klang der Kirchenglocken, sondern dem Ruf des Muezzins, der die
Gläubigen vom Minarett der Moschee zu den fünf täglichen Pflichtgebeten und
zum gemeinsamen Freitagsgebet in der Moschee auffordert.
Den Ruf des Muezzins kann ich mir hierzulande allerdings nur gedanklich
vorstellen. Selbst das Minarett, das schlank und grazil in den Himmel ragt und
die Gläubigen stumm zur Andacht und zum Gebet mahnt, erregt noch Anstoß. Es
darf nicht höher sein als die örtliche Kirchturmspitze, wie die
Verantwortlichen in Mannheim vor einiger Zeit entschieden haben.
Dabei glauben Christen und Muslime an ein und denselben Gott. Es ist Advent,
Vorweihnachtszeit, und es ist zugleich in diesem Jahr Ramadan, Fastenzeit vom
27. November bis voraussichtlich zum 27. Dezember. Weihnachten und Ramadan: Für
die Anhänger beider großer Offenbarungsreligionen Christentum und Islam ist es
die Zeit des Friedens, der Versöhnung und der Nächstenliebe. Die Muslime
nennen den Ramadan auch noch den Monat der Geduld.
"Ihr Gläubigen! Euch ist vorgeschrieben zu fasten, so wie es auch
denjenigen, die vor euch lebten, vorgeschrieben worden ist. Vielleicht werdet
ihr gottesfürchtig sein." Mit diesem und einigen weiteren Versen aus der
Sure Al-Baqara des Korans werden die Muslime verpflichtet, im Monat Ramadan zu
fasten. Von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang dürfen sie keinerlei
Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen, nicht rauchen, und sie müssen sich
auch einiger anderer leiblicher Genüsse strikt enthalten.
Am Anfang, vor allem während der ersten drei Tage, fiel mir das Fasten schwer.
Inzwischen habe ich mich, rascher als gedacht, daran gewöhnt. Nach jedem
Fastentag fühle ich mich nicht nur mental stärker, auch meine körperliche
Fitness ist besser.
Im Islam wird von niemandem mehr verlangt, als er oder sie zu leisten imstande
ist. Niemand wird über Gebühr belastet. Kranke, körperlich Geschwächte, Alte
und Gebrechliche brauchen nicht zu fasten, ebenso Frauen, die ihre Regel haben
oder gerade ein Kind zur Welt gebracht haben. Auch Reisende sind vom Fasten
befreit, sofern sie es zu einem späteren Zeitpunkt nachholen.
Mit der Ausbreitung des Islam in andere Regionen der Erde stellte sich im
Zusammenhang mit dem Ramadan für die Gelehrten die knifflige Frage, die im
Koran nicht im Detail geregelt ist, welche Fastenzeiten beispielsweise in
Nordschottland oder Nordskandinavien einzuhalten sind, wenn der Fastenmonat nach
dem islamischen Mondkalender wieder einmal in die europäische Sommerzeit fällt
und die Sonne in diesen Breiten dann fast gar nicht mehr untergeht. Sollen die
Gläubigen dort einen Monat lang täglich mehr als 20 Stunden fasten, um den
Buchstaben des Koran gerecht zu werden?
In einem Rechtsgutachten, einem so genannten Fatwa, des angesehenen Scheichs von
Al-Azhar in Kairo wird den Gläubigen empfohlen, in Fällen mit extrem langer
Dauer des Tageslichtes nur so viele Stunden zu fasten, wie den Bewohnern der
heiligen Stadt Mekka vorgeschrieben sind.
Natürlich ist das Fasten im Islam wie auch in anderen Religionen mehr als nur
eine von höherer Warte aus verordnete körperliche Entschlackungs- und
Schlankheitskur.
Das Fasten fördert die Selbstdisziplin, die aufzubringen ist, um die damit
verbundenen Entbehrungen durchzustehen. Im Islam sind die Gläubigen
verpflichtet, von ihrem Besitz und Vermögen einen festgesetzten Teil für
soziale Zwecke abzugeben. Darüber hinaus sind alle diejenigen, die es sich
leisten können, aufgefordert, freiwillig für die Bedürftigen zu spenden,
insbesondere für die Waisen. Vor allem im Ramadan sollen die Gläubigen am
eigenen Leibe verspüren, was es heißt, Hunger und Durst zu leiden.
Das Wesentliche und alles andere Überlagernde im Fastenmonat Ramadan ist jedoch
sein spiritueller Aspekt: Beim Fasten begegnet der Mensch Gott, denn - so heißt
es in der Überlieferung - alles, was der Mensch tut oder unterlässt, tut er
für sich selbst, mit Ausnahme des Fastens im Ramadan, das er einzig und allein
für Gott, den Allmächtigen, tut.
Erst durch die Einbettung des Fastens in diese transzendentale Dimension, die
der Gläubige mit einer ganz persönlichen Bekräftigung seiner Absicht zu
fasten, der "Niyyat", vornimmt, wird das Fasten als sakrale Handlung
gültig. Erst dadurch werden die Fastenden auch spirituell von all dem
Alltagsballast, ihren kleinen und großen Verfehlungen, gegen die kein Mensch
gefeit ist, gereinigt, so dass nunmehr - wie es in der Überlieferung heißt -
ihr Atem, der aus ihrer Seele kommt, ganz rein ist und herrlicher duftet als das
wunderbarste Parfüm.
Der Ramadan ist nicht nur der Fastenmonat der Muslime. Er ist zugleich der Monat,
in dem in der "Lailat-ul-Qadar", der Nacht der Bestimmung, der Koran
von Gott zu den Menschen in arabischer Sprache herabgesandt wurde. Hier empfing
Mohammed (570-632), den Gott zu seinem Gesandten auserwählt hat, durch den
Engel Jibrail seine erste Offenbarung. Ihr sollten über einen Zeitraum von mehr
als 20 Jahren weitere Offenbarungen folgen, bis der Koran mit seinen mehr als
6000 Versen vollendet war.
Damit ist der Koran für die Muslime das unmittelbare, unumstößliche Wort
Gottes. Er ist nicht nur die göttliche Offenbarung über die Beziehungen
zwischen den Menschen und ihrem allmächtigen Schöpfer und über das Leben nach
dem Tode im Jenseits. Der Koran ist zugleich eine Anleitung zum Handeln auf
dieser Erde, die für die Muslime absolut verbindlich und nicht verhandelbar ist.
Deswegen hat der Ramadan von allen Monaten im Jahr für die Muslime eine ganz
besondere spirituelle Bedeutung, und sie versammeln sich nach dem Fastenbrechen
(Iftar) jeden Abend zum gemeinsamen Gebet und Rezitieren von Suren aus dem
Koran.
Meine Frau ist eine Muslimin aus West-Sumatra, und so war es für mich nahe
liegend, mich gemeinsam mit meinen indonesischen Glaubensbrüdern und -schwestern
zu versammeln. Das Hamburger Generalkonsulat hat der Gemeinschaft der
indonesischen Muslime die Benutzung eines seiner Räume gestattet. In Windeseile
werden die sonst dort stehenden Möbel, Sessel und Stühle ausgeräumt und
Matten und Teppiche auf dem Fußboden ausgebreitet.
Nach den üblichen rituellen Waschungen betreten wir ohne Schuhe den Raum. Viele
haben ihren eigenen kleinen Gebetsteppich mitgebracht, denn nicht nur die
Betenden sollen sauber sein, sondern auch der Untergrund, auf dem wir beten und
uns vor Gott niederwerfen mit der Stirn auf dem Boden.
Wegen der Enge des Raumes und der vielen Anwesenden sitzen wir auf Tuchfühlung
dicht gedrängt auf dem Boden, die Männer auf der einen Seite, die Frauen uns
gegenüber auf der anderen Seite des Raumes. Es herrscht eine feierliche,
weihevolle und zugleich entspannte Atmosphäre. Neben mir zu meiner Rechten
sitzt mein alter Freund Ali aus Aceh. Ab und zu streicht er mit der Hand über
seinen struppigen, spärlichen Bart. Sein Gesicht hat einen andächtigen,
konzentrierten Ausdruck angenommen. Er spricht schon einmal leise einige Gebete,
seine Lippen bewegen sich kaum dazu. Der fromme Ali hat den Koran gründlich
studiert, und er kennt viele Verse daraus auswendig, die er gerne bei jeder
Gelegenheit auf Arabisch zitiert.
Einer von uns übernimmt die Leitung des Gebetes. Es gibt im Islam kein
Priesteramt, keinen Klerus. Jeder Gläubige, der die Gebetsformeln, die von
allen Muslimen auf der Welt auf Hocharabisch zu sprechen sind, beherrscht, kann
als Vorbeter das Gebet anführen. Wir beten länger als sonst, und nach jedem
Rezitieren der Eröffnungssure Al-Fatiha des Korans schallt ein vielstimmiges,
kräftiges "Aamiin" durch den Raum.
Das Ende des Ramadan, das Id-ul-Fitr, das die Indonesier auch Lebaran und die
Türken Seker Bayrami nennen, wird freudig begrüßt und vor allem auch als ein
mehrtägiges großes Familienfest und ein Fest der Begegnung der Muslime
gefeiert. Es findet in diesem Jahr kurz nach dem Weihnachtsfest, voraussichtlich
am 28. Dezember, statt. Wenn möglich, kommen alle Familienmitglieder zusammen,
wobei die Jüngeren stets zu den Älteren, die Kinder zu den Eltern kommen.
Die Menschen besuchen einander spontan ohne irgendwelche Vorankündigung. Für
unabsichtlich oder auch absichtlich zugefügte Kränkungen und auch so manches
andere, das man sich gegenseitig angetan hat, bitten die Menschen einander um
Verzeihung und bemühen sich, sich miteinander zu versöhnen.
Hamburger Abendblatt 16.12.2000