Dr. Abdulkarim Germanus ( Ungarn ) Professor für Orientalische Studien
Es war an einem regnerischen Nachmittag in meiner Jugend, als ich in einer alten Illustrierten blätterte. Ereignisse der Gegenwart, Fiktives, und Beschreibungen weit entfernter Länder wechselten einander ab. Eine Zeitlang blätterte ich gleichgültig in den Seiten, als mein Blick auf einen Holzschnitt fiel. Das Bild stellte Häuser mit flachen Dächern dar, aus denen sich hier und da runde Kuppeln sanft gegen den dunklen Himmel erhoben, der nur durch den Mond erhellt wurde. Auf einem Dach waren die schattenhaften Umrisse von sitzenden Männern, angetan mit prächtigen Gewändern, zu sehen. Das Bild fesselte meine Phantasie. Es unterschied sich so stark von den herkömmlichen europäischen Landschaften: es war eine orientalische Szene, irgendwo im arabischen Osten, wo ein Geschichten-Erzähler, seine im Burnus gewandten Zuhörer mit lustigen Geschichten erfreute. Die Darstellung war so realistisch, dass ich mir vorstellte mit den arabischen Zuhörern auf dem Dach zu sitzen, die melodische Stimme des Erzählers zu hören – ich, ein sechzehn Jahre alter Student, der in einem bequemen Lehnstuhl in Ungarn saß. Ich fühlte ein unwiderstehliches Bedürfnis in mir, dieses Licht kennen zu lernen, das auf diesem Bild vor mir mit der Dunkelheit kämpfte.
Ich begann die türkische Sprache zu lernen. Bald wurde mir klar, dass die literarisch türkische Sprache nur wenige türkische Wörter aufweist. Die Poesie wird durch persische Ausrücke bereichert, die Prosa beinhaltet viele arabische Elemente. Ich beschloss, alle drei Sprachen zu lernen, um mir Zugang zu dieser geistigen Welt zu verschaffen , die solch strahlendes Licht über die Menschheit verbreitete.
Während eines Sommers hatte ich das Glück nach Bosnien reisen zu können, dem orientalischen Land, das meinem Heimatland am nächsten liegt. Sobald ich mich in einem Hotel einquartiert hatte, rannte ich los, um wirkliche Muslime zu sehen, deren türkische Sprache mir durch die mit arabischem Schrifttum vollgestopften Seiten meiner Gramatik bloß zugezwinkert hatte. Es war Nacht, und in einer der schwach beleuchteten Strassen fand ich bald ein bescheidenes Café, in welchem ein paar Bosnier auf niedrigen Strohstühlen sich ihren kayf zu Gemüte führten. Sie trugen die traditionellen weiten Hosen, die in der Mitte mit einem breitem Gürtel zusammengefaßt wurden, an dem eine Unzahl Dolche baumelten. Ihr Kopfschmuck und das fremdartige Gewand verlieh ihnen den Anschein von Streitsüchtigkeit. Mit klopfendem Herz betrat ich kakwekhume und setzte mich schüchtern in einer weit entfernten Ecke nieder. Die Bosnier beäugten mich neugierig und plötzlich fielen mir all die haarsträubenden Geschichten über die muslimische Intoleranz ein, die ich in fanatischen Büchern gelesen hatte. Ich bemerkte, dass sie einander etwas zuflüsterten, und dass sie über mein unerwartetes Eintreten redeten. Meine kindliche Phantasie malte Schreckgespenster an die Wand; sicherlich würden die Männer gleich ihre Dolche ziehen und auf mich, den unerwünschten Eindringling, losstürzen. Ich wünschte mir nur, heil aus diesem Raum hinauszukommen, doch wagte ich nicht mich zu rühren.
In wenigen Sekunden brachte mir der Kellner eine Tasse duftenden Kaffees und zeigte auf die angsterregende Gruppe von Männern. Ich wendete ihnen mein angstvolles Gesicht zu, als einer von ihnen ein sanftes salam sprach und mir freundlich zulächelte. Zögernd zwang ich meinen verkrampften Mund zu einem Lächeln. Die eingebildeten "Feinde" erhoben sich langsam und kamen auf meinen kleinen Tisch zu. Was jetzt? – flüsterte mein zitterndes Herz – werden sie mich vertrieben? Ein zweites salam folgte und sie setzten sich um mich. Einer von ihnen bot mir eine Zigarette an, und in ihrem flackernden Licht stellte ich fest, dass sich hinter dem kriegerischen Aussehen der Männer eine gastfreundliche Seele verbarg. Ich nahm allen Mut zusammen und sprach die Männer mit meinem primitiven türkisch an. Das wirkte wie Zauber. Ihre Gesichter strahlten in Freundlichkeit, ja, in Zuneigung auf – und statt Feindseligkeit zu zeigen, luden sie mich in ihre Häuser ein; und statt der fälschlich erwarteten Dolche überhäuften sie mich mit Wohlwollen. Das war mein erstes Zusammentreffen mit Muslimen...
Viele Jahre sind seither vergangen und ich habe eine reiche Abwechslung von Ereignissen, Reisen und Studien erlebt. Jede Reise eröffnete vor meinen neugierigen Augen neue Ausblicke. Ich durchquerte alle Länder Europas, studierte an der Universität von Konstantinopel und bewunderte die historischen Schönheiten von Kleinasien und Syrien. Ich hatte türkisch, persisch und arabisch gelernt und den Lehrstuhl für islamische Studien an der Universität von Budapest erworben. All das trockene und greifbare Wissen, das sich im laufe der Jahrhunderte aufgehäuft hatte, all die Tausenden von Seiten gelehrter Bücher hatte ich mit giereigen Augen verschlungen – aber meine Seele blieb durstig. Ich fand den Faden der Ariadne in den Büchern, aber mich durstete nach den immergrünen Gärten der religiösen Erfahrung.
Mein Geist war gesättigt aber meine Seele litt Durst. Ich musste viel von der Gelehrsamkeit, die ich mir angeeignet hatte, ablegen, und sie durch innere Erfahrung aufs Neue aufzunehmen, veredelt durch das Feuer des Leidens, wie das grobe Erz, welches durch den plötzlichen Schock grosser Kälte in elastischen Stahl verwandelt wird.
Eines Nachts erschien mir der Prophet Muhammed. Sein langer Bart war von Henna rotgefärbt, sein Gewand war einfach, aber auserlesen, und ein angenehmer Duft entströmte ihm. In seinen Augen erglänzte ein edles Feuer, und er sprach mich mit seiner männlichen Stimme an: "Warum machst du dir Sorgen? Der gerade Weg liegt vor dir, so sicher wie das angesicht der Erde; schreite nur mutig vorwärts, mit der Kraft des Glaubens".
"O Verkünder Gottes", rief ich in meinem Fiebertraum auf arabisch, "für dich ist das leicht der du jenseits stehst, du hast auf himmlisches Geheiss alle Feinde besiegt, und deine Mühe wurde mit Ruhm gekrönt. Aber ich muss noch leiden und wer weiss, wann ich Ruhe finden werde?"
Er blickte mich streng an und versank dann in Gedanken, aber nach einer Weile sprach er wiederum. Sein arabisch war so klar, dass jedes Wort wie eine Silberglocke erklang. Sein prophetisches Wort, das Gottes Befehl beinhaltete fiel mit erdrückender Gewalt auf meine Brust herab: ‘A lam naj’ al-Arda mihadan"
„Haben Wir nicht die Erde zu einem Bette gemacht,
Und die Berge zu Pflöcken?
Und Wir haben euch in Paaren erschaffen,
Und Wir haben euch den Schlaf zur Ruhe gemacht"
Sura 78: 6-9 Ayat
"Ich kann nicht schlafen". Ich stöhnte vor Schmerz. "Ich kann die Geheimnisse, die mit undurchdringlichen Schleiern umgeben sind, nicht lüften. Hilf mir, Muhammed, Prophet Gottes! Hilf mir!"
Ein wilder Schrei drang stossweise aus meiner Brust. Ich schlug unter der Last meines Alptraumes wild um mich – ich fürchtete mich vor dem Zorn des Propheten. Dann schien mir, als ob ich in die Tiefe sank – und dann erwachte ich. Das Blut hämmerte mir in den Schläfen, mein Körper war in Schweiss gebadet, und ich fühlte mich sehr traurig und einsam.
Der darauffolgende Freitag wurde Zeuge einer eigenartigen Szene im riesigen Juma Masjid von Delhi. Ein blonder bleichgesichtiger Fremdling bahnte sich, begleitet von einigen älteren Männern, mit den Ellenbogen einen Weg durch die drängende Schar von Gläubigen. Ich trug ein indisches Gewand, auf meinem Kopf eine kleine Rampuri Kappe, und ich hatte an meiner Brust die türkischen Orden befestigt, die mir von früheren Sultanen überreicht worden waren. Die Gläubigen starrten mich erstaunt und überrascht an. Unsere kleine Gruppe schritt geradewegs auf die Kanzel zu, die von den ehrwürdigen gelehrten Alten umringt war, die mich freundlich mit einem lauten salam empfingen. Ich setzt mich in die Nähe der Mimbar ( Kanzel ) nieder, und liess meinen Blick über den schön geschmückten vorderen Teil der Moschee schweifen. In ihrer mittleren Arkade hatten wilde Bienen ihre Nester erbaut und schwärmten ungestört darum herum.
Plötzlich ertönte das Adhan ( Der Gebetsruf ) und die Mukabbire, die an verschiedenen Stellen des Hofes standen gaben den Ruf bis in die hintersten Winkel der Moschee weiter. Viertausend Männer erhoben sich wie Soldaten auf Geheiss des himmlischen Gebotes, zusammengedrängt in dichten Reihen sprachen sie ehrfurchtsvoll ihre Gebete – und ich als einer von ihnen. Es war ein erhabener Augenblick. Nachdem die khutba ( Predigt ) stattgefunden hatte, fasste mich Abdulhayy bei der Hand und führte mich zur Mimbar. Ich musste meine Schritte sorgfältig wählen, um nicht auf jemanden, der am Boden hockte, zu treten. Der grosse Augenblick war eingetreten. Ich stand an den Stufen der Mimbar. Die riesige Menge der Männer begann sich zu bewegen. Tausende von Häuptern, mit dem Turban bekleidet, verwandelten sich in eine Blumenwiese, die mir eigenartig zumurmelte. ‘Ulama ( Gelehrten ) mit grauen Bärten umringten mich und blickten mich ermutigend an. Sie übertrugen eine ungewöhnliche Ruhe auf mich und ohne Fieber oder Angst erstieg ich langsam die siebte Stufe der Mimbar. Von oben überblickte ich die unübersehbare Menschenmenge, die wie das lebendige Meer unter mir wogte. Jene, die weiter hinten standen, reckten ihre Hälse und dies schien den ganzen Hof in Bewegung zu versetzen. "Mascha’Allah" riefen einige in der Nähe, und ihre Augen blickten warm und voller Zuneigung.
"Ayyah al-Saadaat al-Kiram", begann ich auf arabisch – "Ich komme aus weiter Ferne, um mir Wissen anzueignen, das ich zu Hause nicht bekommen konnte. Ich kam zu euch um der Eingebung willen, und ihr habt auf meinen Ruf geantwortet". Ich fuhr fort und sprach von dem Auftrag des Islam in der Weltgeschichte, und von dem Wunder, das Gott mit Seinem Propheten vollbracht hat. Ich sprach über den Rückgang, den die Muslime heutzutage erfahren, und von den Mitteln, mit deren Hilfe ein neuer Aufstieg herbeigeführt werden könnte. Es ist ein Sprichwort des Muslims, dass alle von Gottes Wille abhänge, aber der heilige Kuran sagt auch dass "Gott die Lage der Menschen nicht verbessern würde, wenn sie nicht ihr Verhältnis zu sich ändern". Ich baute meine Rede auf diesem Satz aus dem Kuran auf und schloss mit der Lobpreisung des frommen Lebens, und des Kampfes gegen das Böse.
Dann setzte ich mich. Ich wurde aus dem Trancezustand meiner Ansprache durch ein lautes "Allahu Akbar" herausgerissen, das aus jedem Winkel der Moschee erklang. Die Spannung war überwältigend, ich kann mich kaum an etwas erinnern, als dass Aslam mich von der Mimbar herunterholte, mich beim Arm nahm und aus der Moschee hinauszog.
"Weshalb diese Eile" fragte ich.
Männer standen vor mit und umarmten mich. Manch ein armer leidender Kerl sah mich mit flehenden Augen an. Sie baten um meinen Segen und wollten mein Haupt küssen.
"O Gott" rief ich aus "gestatte diesen unschuldigen Seelen nicht, mich über sie zu erheben. Ich bin ein Wurm unter Würmern auf dieser Erde, ein Wanderer zum Licht, ebenso machtlos wie all die anderen armseligen Kreaturen!"
Die Seufzer und Hoffnungen dieser unschuldigen Menschen beschämten mich, als ob ich gestohlen oder betrogen hätte. Welch schreckliche Last es doch für einen Staatsmann bedeuten muss, wenn sich ihm die Menschen anvertrauen, von ihm Unterstützung erhoffen und ihn höher einstufen als sich selbst!
Aslam befreite mich von den Umarmungen meiner neuen Brüder, setzt mich in eine Tonga und fuhr mich nach Hause.
Am folgenden Tag und an den weiteren kamen die Menschen scharenweise zu mir, um mir zu gratulieren und ich wurde mit soviel Wärme und Zuneigung überschüttet, das ich davon ein Leben lang zehren kann.
( Der Autor trat in den 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts zum Islam über. Aus dem Buch „Islam unsere Wahl" )